Die Weltwoche (Schweiz) vom 19.08.1999

Sie starben – Deutschlands Firmen profitierten

Zehn Millionen Menschen aus Osteuropa wurden zwischen 1939 und 1945 ins Dritte Reich verschleppt und zur Arbeit gezwungen.
Zehntausende starben für Hitlers Krieg – und für das deutsche Wirtschaftswunder.
Selten wurden die Opfer entschädigt. Jetzt fordern überlebende Zwangsarbeiter Wiedergutmachung in Milliardenhöhe.

Von Ernst Kindhauser

Zwei Monate alt war Anna Snopczyks Kind, als es in einer Holzbaracke verhungerte.  Der tote Säugling wurde in Pappe gewickelt und mit anderen toten Kleinkindern in einem Waschraum gestapelt. Die Begräbniskosten zog man der Mutter vom kargen Lohn ab – so erfuhr sie vom Tod des Kindes.
Die Polin Anna Snopczyk, 78, wurde vom Nazi-Regime verschleppt und musste als Sklavin für die Volkswagen AG arbeiten. Jetzt klagt sie gegen ihre ehemaligen Peiniger. Wegen Mords durch «absichtliche Vernachlässigung». Snopczyks Anwalt, der Amerikaner Michael D. Hausfeld, dokumentiert auf dem Internet die Verbrechen der VW-Chefs: Schon zwei Wochen alte Säuglinge wurden ihren Müttern entrissen, in einen «Hort für schlechtrassige Kinder» gebracht und dort dem sicheren Tod ausgeliefert. Bis 1945 kamen mindestens 350 Kinder ums Leben.
Jahrzehntelang hatten deutsche Unternehmen für ihre NS-Vergangenheit nur dürre Worte übrig. Anfragen von Opfern wegen Entschädigung wurden mit der Schutzbehauptung abgewiesen, Zwangsarbeiter seien den Unternehmen gegen ihren Willen vom Regime aufgezwungen worden. Doch seit dem Erfolg jüdischer Organisationen gegen die Schweizer Banken hat die Vergangenheit Deutschlands Firmen eingeholt. Nun scheint es den ehemaligen Zwangsarbeitern endlich zu gelingen, die Mitverantwortung renommierter Unternehmen an Ausbeutung, Folter und Massenmord öffentlich zum Thema zu machen.
In Amerika häufen sich die Sammelklagen von Zwangsarbeitern; auch vor deutschen Gerichten fordern osteuropäische Opfer Wiedergutmachung. Am Pranger stehen Chemiekonzerne wie Bayer und Hoechst, Industriebetriebe wie Daimler-Chrysler, VW und Siemens, Grossbanken und Versicherungen. Die «Verschwörung des Schweigens», wie sich der vorige Woche verstorbene Ignatz Bubis ausdrückte, scheint gebrochen.
Wiedergutmachung wäre indes nur ein Teil des Profits, den Deutschlands Firmen mit der Ausbeutung von Arbeitssklaven gemacht haben. Nicht nur während des Krieges. Denn gegen Ende der Nazi-Zeit, als sich die totale Niederlage Deutschlands abzeichnete, verfolgten viele Unternehmen nur noch ein Ziel: sich gute Startpositionen für die Stunde null zu verschaffen. Zu diesem Zweck ließen sie 1944/1945 Millionen Zwangsarbeiter schuften. Die Fundamente des deutschen Wirtschaftswunders, sie wurden gebaut von Zwangsarbeitern.
Das NS-Regime hat die Sklaverei, 1871 in Deutschland unter Strafe gestellt, neu erfunden – systematischer als je zuvor. Insgesamt wurden von 1939 bis 1945 rund zehn Millionen Menschen aus 26 Ländern zum «Reichseinsatz» nach Deutschland deportiert und zur Arbeit gezwungen. Auf dem Höhepunkt der Sklavenwirtschaft, im Herbst 1944, wurden acht Millionen Ausländer – Verschleppte, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge – «zum Arbeitseinsatz gebracht», wie es im NS-Jargon hieß. Die meisten von ihnen stammten aus der Sowjetunion (3 Mio.), Polen (1,2 Mio.) und Frankreich (1,2 Mio.). In der Chemie, auf dem Bau, in der Metallindustrie und in den Bergwerken war ein Drittel aller Arbeitskräfte Zwangsarbeiter, in der Landwirtschaft und Rüstungsindustrie gar die Hälfte.

Ihre Ausbeutung erstreckte sich, von der Verwaltung abgesehen, auf die gesamte Wirtschaft: kleine und große Industriebetriebe, die Reichsbahn, Bauernhöfe, private Haushalte. Rund 70 000 Barackenlager, oft kleine KZs, bildeten einen regelrechten Lagerkosmos. «Städte und Dörfer waren mit Ausländer-Lagern überzogen», schreibt der Historiker Ulrich Herbert. Deutschen Meistern, Vorarbeitern und Polizisten auf Gnade und Ungnade ausgeliefert, unterernährt, misshandelt – das Schicksal der Zwangsarbeiter war sichtbarer Alltag für jedermann.
«Die deutsche Landwirtschaft wäre schon 1940 ohne die etwa zwei Millionen ausländischen Arbeiter nicht mehr in der Lage gewesen, die Lebensmittelproduktion aufrechtzuerhalten», stellt Ulrich Herbert fest, «die gesamte Kriegswirtschaft war spätestens seit dem Herbst 1941 alternativlos auf Ausländer angewiesen.» Allerdings, die Verschleppung und Versklavung von Millionen Menschen war ursprünglich nicht geplant. Reichsarbeitsminister Hans Seldte schätzte zwar schon vor Kriegsbeginn den «ungedeckten Bedarf der deutschen Wirtschaft auf eine Million Arbeitskräfte». Doch Kriegspläne, Ausländer «massenhaft zum Einsatz zu bringen», lehnte SS-Reichsführer Heinrich Himmler zunächst aus «volkspolitischen» Gründen ab; «Fremdvölkische» würden die «Blutreinheit des deutschen Volkes» bedrohen.
Solche Bedenken schwanden im Verlaufe des deutschen Eroberungs- und Vernichtungskriegs. Schon 1940 begann im besetzten Polen eine regelrechte Menschenjagd. Gleichzeitig wurden die etwa 300 000 polnischen Kriegsgefangenen für die Landwirtschaft zwangsverpflichtet. «Es wäre besser, wenn wir sie nicht hätten», begründete Himmler den Meinungswandel des Regimes, «aber wir brauchen sie.» Damit der «Poleneinsatz» allerdings nicht allzu sehr gegen die «rassischen Prinzipien» des Nationalsozialismus verstieß, wurde mittels repressiver Bestimmungen ein Herr-Knecht-System etabliert. Polnische Zwangsarbeiter hatten sich «vom kulturellen Leben» fern zu halten, ebenso von deutschen Frauen. Plakate appellierten: «Deutscher! Der Pole ist niemals Dein Kamerad!» Und anderthalb Jahre vor Einführung des Judensterns wurde das sichtbar zu tragende «P» als obligatorisches Polenabzeichen amtlich eingeführt.
Nach den ersten Niederlagen in der Sowjetunion nahm der Arbeitskräftemangel dramatische Ausmaße an. Die meisten Deutschen standen an der Front, der Krieg forderte enorme Rüstungsanstrengungen. Auf Drängen der Industrie sah sich das Regime genötigt, weltanschauliche Grundsätze aufzugeben: Auch sowjetische Kriegsgefangene sollten nun in Deutschland arbeiten. Doch von über drei Millionen Gefangenen stand mehr als die Hälfte gar nicht mehr zur Verfügung. Sie waren verhungert, erfroren oder umgebracht worden. Deshalb deportierten SS- und Wehrmachtskommandos ab Mitte 1942 auch Zehntausende von Zivilisten aus der Sowjetunion als «Ostarbeiter» nach Deutschland.
Je näher das Kriegsende rückte und je mehr die Rekrutierungsmöglichkeiten schwanden, desto stärker forderten die Unternehmen, das einzig noch verbliebene Reservoir an Arbeitskräften auszuschöpfen: die KZ-Häftlinge. Mit Blick auf die sich abzeichnende Nachkriegszeit fielen sämtliche Hemmschwellen. Ab 1944 zwangen Hunderte von Firmen KZ-Häftlinge zur Arbeit – und schlossen sich damit dem SS-Programm «Vernichtung durch Arbeit» an. «Das Management stellte sich auf die innere Logik des Vernichtungsprozesses ein und machte ihn für eigene Zwecke nutzbar», konstatiert der Historiker Rainer Fröbe, «im Rahmen einer rationalen Zukunftsplanung nahm die Industrie billigend in Kauf, was die SS anstrebte: den Tod der Häftlinge.»
Über die Zahl der ausgebeuteten KZ-Häftlinge gibt es lediglich Schätzungen. Vermutlich über 700 000 «Zebras», wie sie des gestreiften Drillichs wegen genannt wurden, hat die SS 1944/1945 in tausend «KZ-Aussenlagern» dem «Arbeitseinsatz zugeführt». Wie viele umkamen, weiß man bis heute nicht. Sicher ist: Die meisten KZ-Zwangsarbeiter starben an Unterernährung, an Krankheiten, wurden erschlagen, erschossen. Sie starben, damit Deutschlands Betriebe überlebten – und für die Zeit nach dem Krieg gerüstet waren.

Am 7. Dezember 1944, die Amerikaner standen bei Aachen, fuhren trotz Fliegergefahr, Chaos und Benzinknappheit schwarze Limousinen durch das bayrische Ampfing. Die Herren, die an der Baustelle Mühldorf ausstiegen, stellten ein Who is who der deutschen Wirtschaft dar: Reichsbank-Vize Kurt Lange, AEG-Chef Hermann Bücher, Siemens-Vorstand Friedrich Lüschen, Vertreter von Daimler, Rheinmetall und Junkers. Zusammen mit hohen NS-Funktionären besichtigten sie das Bunkerprojekt «Weingut 1». Sie blickten in die Hölle: Tausende von menschlichen Wracks, in Erdhütten vegetierend, trotz klirrender Kälte in Drillichfetzen gekleidet, ohne Schuhe, gezeichnet von Krankheit, Hunger und Erschöpfung, von der SS angetrieben.
Mit Bunkerprojekten wie «Weingut» versuchte Hitler, die zerstörte Rüstungsindustrie unter Tage wieder aufzubauen. Doch die mit der Realisierung beauftragten Industriebosse hatten längst andere Pläne. Sie versuchten, schreibt VW-Chronist Hans Mommsen, ihre Werke «möglichst unbeschadet in die Friedensproduktion hinüberzuretten». Unterirdische Anlagen sollten dazu dienen, Maschinen, Ersatzteile und Rohstoffe für die Nachkriegszeit sicherzustellen. Überall in Deutschland, in stillgelegten Bergwerken, Steinbrüchen und Tunnels, ließ die Industrie von KZ-Häftlingen Bunker bauen. Mit großem Erfolg, wie der Historiker Neil Gregor am Beispiel Daimler nachweist: «Der Konzern ging mit einem weitgehend intakten, den Bedürfnissen der zivilen Produktion entsprechenden Maschinenpark und einer klar definierten Strategie in die Nachkriegsepoche.»


Mit in die Pläne eingeschlossen waren Anstrengungen, vor dem Einmarsch der Alliierten alle Spuren der Sklaverei zu beseitigen. Die SS wurde angehalten, die nunmehr unerwünschten Häftlinge aus der Nähe der zu rettenden Industrieanlagen zu entfernen. Wie das geschah, interessierte die Firmen nicht, Hauptsache, es geschah. Daimler etwa stellte der SS in Aussicht, «die Kosten des Abtransports bis in die Höhe von 10 000 Reichsmark zu übernehmen». Zu Tausenden wurden die Arbeitssklaven von der SS in den Baracken verbrannt – oder auf Todesmärsche geschickt.
Zur Mitschuld an der NS-Sklavenwirtschaft hat sich bis heute kaum je ein deutsches Unternehmen bekannt. Zwar wurden die Industriellen Friedrich Flick und Alfred Krupp in den Nürnberger Prozessen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt, doch schon in den fünfziger Jahren setzten sich in der deutschen Öffentlichkeit die Argumente der Verteidigung durch: dass die Firmen selbst Opfer der NS-Diktatur waren, weil ihnen die Zwangsarbeiter aufgenötigt wurden. Die meisten Unternehmen weigerten sich deshalb, Wiedergutmachung zu leisten. Nur wenige Firmen – Krupp, Daimler, AEG, Siemens, Rheinmetall und die IG-Farben – zahlten, meist begleitet von peinlichem Gefeilsche, bescheidene Summen an jüdische Organisationen. Ein Einzelfall ist VW. In den neunziger Jahren, nach umfangreichen historischen Forschungen, war der Konzern bereit, auf Bittschreiben von zweitausend ehemaligen Zwangsarbeitern einzutreten. Bislang erhielten siebenhundert von ihnen je zehntausend Mark Entschädigung.
Jahrzehntelang haben deutsche Gerichte die abweisende Haltung der Unternehmen gestützt: Zwangsarbeit sei nicht als typisches NS-Unrecht, sondern als allgemeine Kriegsfolge anzusehen. Ansprüche aus Zwangsarbeit für SS und Wirtschaft müssten deshalb Gegenstand von Reparationen in einem Friedensvertrag sein. Erst der Zwei-plus-Vier-Vertrag, rechtliche Grundlage der deutschen Einheit, eröffnete NS-Opfern neue Möglichkeiten. In Musterprozessen entschieden 1997 die Landesgerichte Bonn und Bremen erstmals zugunsten von ihnen: Die Bundesrepublik als «Rechtsnachfolgerin» hafte für das vom Deutschen Reich begangene Unrecht. Jetzt hat der Bundesgerichtshof über die Revision zu entscheiden.
Verspätet dürfen damit Hunderttausende von Zwangsarbeitern auf staatliche Entschädigung hoffen. Zwar hat die Bundesrepublik bis heute 104 Milliarden Mark an Wiedergutmachung für NS-Opfer geleistet, doch sie grenzte von Beginn weg Millionen Opfer aus – vor allem Menschen aus den vom Nazi-Terror besonders betroffenen osteuropäischen Ländern. Denn das Bundesentschädigungsgesetz von 1956, über das ein Grossteil der Gelder ausgezahlt wurde, sicherte Entschädigung nur jenen NS-Opfern zu, die in Westdeutschland lebten und ihren Antrag bis 1969 gestellt hatten. Zudem hatte nur Anspruch, wer aus rassistischen, politischen oder religiösen Gründen verfolgt worden war. Weder Kriegsgefangene noch Zwangsarbeiter aus Osteuropa fielen unter diese Kategorien.

Auch nach dem Fall der Mauer hoffte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, den Bonner Staat und Deutschlands Firmen mit einem einmaligen Pauschalbetrag von individuellen Forderungen nach Wiedergutmachung freikaufen zu können. Anfang der neunziger Jahre zahlte die Bundesrepublik insgesamt 1,5 Milliarden Mark für Stiftungen von NS-Opfern in Polen, Weißrussland, Russland und der Ukraine – und glaubte damit alle weiteren Ansprüche abgegolten.
Spätestens seit sich jüdische Organisationen gegen die Schweizer Banken durchsetzten, lässt sich die Geschichte mit Almosen nicht mehr entsorgen. Unter Führung der amerikanischen Regierung verhandeln seit Anfang 1999 jüdische Organisationen, osteuropäische Regierungen und Anwälte überlebender Zwangsarbeiter in Bonn und Washington mit den Vertretern der deutschen Industrie über eine umfassende Regelung.

Nur am Anfang war die große Geste: Sechzehn deutsche Unternehmen lancierten die «Stiftungsinitiative Erinnerung, Verantwortung und Zukunft», um «rasch und unbürokratisch» die quälende Hypothek abzutragen. Bis zum 1. September 1999, dem 60. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, wollte man sich mit den NS-Opfern einigen. Das ist mittlerweile unrealistisch. Diese Woche legten die amerikanischen Anwälte der Zwangsarbeiter einen Gegenvorschlag vor; bis Ende Jahr will man sich einigen. Doch Großzügigkeit und Menschlichkeit hat man längst aus dem Auge verloren, die Verhandlungen sind zum Schacher um Blutgeld und Bringschuld verkommen.
Die Frage, wer wie viel an wen bezahlen soll, droht sich zu einem unsäglichen Gezerre zu entwickeln. Die rot-grüne Regierung hat es versäumt, als ehrliche Maklerin aufzutreten, weil sie schon zu Beginn der Verhandlungen das politische Interesse Deutschlands mit dem der Industrie gleichsetzte. Die Stiftungsidee der Unternehmen schließlich enthält bei genauerem Hinsehen Bedingungen, die zur angekündigten Großzügigkeit gar nicht passen. Antragsteller müssen mindestens sechs Monate unter haftähnlichen Bedingungen gefront haben und «bedürftig» sein. Zahlungen sollen sich an der durchschnittlichen Rente eines Landes bemessen; Opfer in Osteuropa würden weit weniger erhalten als solche im Westen.
Nicht das historische Unrecht, sondern die jetzige Altersarmut ist das Maß, nach der deutsche Firmen ihre geizige «Geste der Versöhnung» bemessen. Selbst nach ihren Härteklauseln müssten 600 000 noch lebende Zwangsarbeiter entschädigt werden, was sechs Milliarden Mark kosten würde, nimmt man das VW-Modell zum Maßstab. Die Firmen hingegen wollen höchstens drei Milliarden hergeben. Und sie verlangen «Rechtssicherheit»: eine Garantie, dass die noch lebenden Zwangsarbeiter künftig auf weitere Klagen verzichten. Schiere Illusion, wie Anna Snopczyks Beispiel zeigt: Niemand mehr wird einer polnischen Mutter verbieten können, in Deutschland oder Amerika vor Gericht zu ziehen.

Geschichtswerkstatt Mühldorf e.V.